24.09.2023

Der Anspruch des Augenblicks

3Mo 19,18: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr!

Lk 10,33: Ein Samariter, der auf der Reise war, kam dahin. Und als er den Verletzten sah, jammerte es ihn, und er ging hin ...


Diese Definition von Nächstenliebe stammt von Rudolf Bultmann. Bei dem ist ja sonst von der Wahrheit nichts übrig. Aber was Jesus mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter aussagen wollte, fasst er doch recht präzise zusammen: Der Nächste ist „der Anspruch des Augenblicks“ an die mir innewohnende Liebe Gottes. Deshalb dreht Jesus die Ausgangsfrage um: Aus „Wer ist denn mein Nächster?“ wird „Wer war dem Verletzten der Nächste?“

Bemerkenswerterweise steht das oben genannte Gebot auch nicht irgendwo in der Torah, sondern im sogenannten Heiligkeitsgesetz. Ausschlaggebend ist hier die Begründung: „Ich bin der Herr!“ Wie ist es eigentlich zu erklären, dass von allem Christlichen nur noch dieses Gebot akzeptiert wird, während dessen Begründung ums Verplatzen nicht mehr geduldet werden kann?

Martin Luther wollte die Messe vom Gottesdienst deutlich unterschieden wissen. Er sagte, Gottesdienst sei das, wodurch ich Gott am Nächsten diene. Die sonntägliche Veranstaltung war für ihn natürlich nicht beliebig; in Verkündigung und Seelsorge dient Gott uns. Gottesdienst im eigentlichen Sinne war für Luther aber das gelebte Christsein unter der Woche.
Die Propheten verkündigen bisweilen ähnlich: Nicht im Tempel findet Gottesdienst statt, sondern da, wo ihr aneinander den Willen eures barmherzigen Vaters tut.


Paulus redet häufig von den Gemeindeversammlungen. Aber mit dem Begriff „Gottesdienst“ bezeichnet er die Ganz-Hingabe an den Willen Gottes aufgrund von Sinnesumkehr (Röm 12).

Da würde sich dann auch der Kreis mit dem Heiligkeitsgesetz wieder schließen. Denn durch eine solche Ganz-Hingabe an den Willen Gottes kämen die Geheiligten in die Entsprechung zu ihrem Heiliger: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig!“

In der Mission spricht man schon mal ironisch von der „Fernstenliebe“. Nimmt Jesus diesen Begriff in seinem Gleichnis vielleicht sogar auf, dreht ihn um, befreit ihn von Ironie und fragt: Warum ist es eigentlich der Fernste, der den Verletzten liebt, und nicht die beiden, die von Gott damit beauftragt wären? Muss man sich vielleicht die völlige Infragestellung der Zuhörer Jesu noch größer vorstellen?